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Ausstellung „Eine Sprache - viele Geschichten“
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Eine Sprache - viele Geschichten, © Deutsche Botschaft Tallinn
Die einfachste Art, seine Welt zu verändern, ist es, eine Fremdsprache zu erlernen. In dieser Ausstellung erzählen 15 Estinnen und Esten, welche persönlichen Erfahrungen sie mit der deutschen Sprache verbinden. Wie kann man mehrere Heimatorte ins Herz schließen oder was passiert, wenn die deutsche Sprache und die Sex Pistols zusammen aufeinandertreffen? Der deutsche Sinn für Humor und was Berlin mit dir macht – das alles kommt hier vor.
Texte: Kristel Trell
Fotografie: Christian Gogolin und Iris Kivisalu
Eine Ausstellung der Deutschen Botschaft Tallinn
Eine Sprache - viele Geschichten
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Urmas Klaas
Politiker
Der begeisterte ZDF-Zuschauer aus Põlva schrieb einen Brief an Helmut Kohl
Damals, als ich noch zur Schule ging, war eben Deutsch die einzige Möglichkeit, neben Russisch noch eine Fremdsprache zu lernen. Ich habe also Deutsch gelernt, hatte darin auch die beste Zensur, obwohl ich nicht wirklich sprechen konnte. Irgendwie habe ich ein paar Brocken Deutsch sprechen können, aber mit meinen Sprachkenntnissen war ich nicht zufrieden.
Als ich dann an der Uni Geschichte studierte, waren Deutschkenntnisse Pflicht – die meisten Quellen und Literatur waren ja gerade auf Deutsch. So fing ich an, eigenständig die Sprache zu erlernen, denn nun gab es mehr Motivation. Es kamen die 90er Jahre, die Grenzen öffneten sich, über den Satellitenanschluss konnte man verfolgen, was in der Welt passierte. Aus mir wurde ein treuer Zuschauer des ZDF und ORF. Bei der Wiedervereinigung habe ich mit Studienfreunden von der Uni sogar Bundeskanzler Helmut Kohl einen Brief geschrieben, um dem deutschen Volk zu gratulieren und mitzuteilen, dass die Geschichtsstudenten der Universität Tartu solidarisch hinter ihm stehen!
Es boten sich reale Möglichkeiten, in anderen Teilen der Welt Freunde zu finden – zum Beispiel Brieffreunde. Im Landkreis Põlva traf ein Schreiben aus Bad Segeberg ein, in dem angeboten wurde, mit dortigen Familien in Kontakt zu treten. Auch ich schrieb, dass wir – zwei Brüder, meine Mutter und mein Vater – an einer Freundschaft mit einer ähnlichen Familie interessiert seien. So kamen eines Tages Ingo, Inge, Jens und Jörn in unser Leben. Ich erinnere mich bis heute daran, wie Vater und Sohn uns nach einer abenteuerlichen Schiffsreise das erste Mal besuchten. Sie kamen mit einem kleinen Audi, vollgeladen mit allerlei notwendigen Dingen. Sogar Mineralwasser war dabei, ganz zu schweigen von Coca-Cola, Lebensmitteln und Zahnpasta. Freunde sind wir heute noch.
Bis jetzt reise ich regelmäßig nach Deutschland: Ob als Student, als auch Politiker, und musste alle möglichen Fragen zu Estland beantworten, denn das Interesse an uns ist weiterhin groß. Ich bin irgendwie halb aus Versehen zum großen Freund Deutschlands geworden, habe fast die Rolle eines Experten übernommen . Ich werde nicht müde, meine Bewunderung über die deutsche Ingenieurskunst und deren Leistungsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen. Gleiches gilt für die deutschen Medien, wie zum Beispiel die Nachrichtensendungen des ZDFs. Den Spiegel oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung lese ich auch heute noch regelmäßig.
© Christian Gogolin
Merit Kopli,
Kulturreferentin, frühere Chefredakteurin und Journalistin
Eine Estin mit deutscher Pünktlichkeit
Mit Deutschunterricht habe ich in der 1. Klasse des Deutschen Gymnasiums Kadriorg angefangen. Wenn man das Gymnasium und die Jahre an der Universität zusammenzählt, sind es insgesamt fast 15 Jahre Deutschunterricht. Ich bin Peter, Du bist Paul, ich bin fleissig, Du bist faul, so fing es an.
Die erste Reise nach Deutschland im Jahr 1993 war für mich der absolute Höhepunkt – ein Kindheitstraum vom schönen Deutschland wurde tatsächlich Wirklichkeit! Umgangssprache habe ich damals zwar nicht so richtig verstanden, aber meine Grammatik war perfekt.
Meine Mutter hat immer betont, wie wichtig es sei, Sprachen zu lernen. Es würde das Leben erleichtern. Als Kind in einem geschlossenen Sowjetstaat konnte ich es damals nicht so richtig nachvollziehen, und begreife erst jetzt, was für eine Bereicherung es ist.
Und es macht Spaß, eine fremdsprachige Zeitung zu öffnen und alles zu verstehen! So fängt mein Morgen fast immer mit Die Welt an. Dann gucke ich kurz in die Süddeutsche Zeitung, auch die Nachrichten vom Spiegel. Eine Routine, ohne die der Tag nicht vollständig beginnen kann. Mein Herz gehört Köln: eine Stadt voll mit französischem und holländischem Flair, so lebendig und geheimnisvoll.
Deutsch hat meine Karriere deutlich beeinflusst: Dank meiner Sprachkenntnisse bekam ich in den 1990er Jahren die Möglichkeit, mich in Deutschland weiterzubilden. Ich habe sowohl beim Fernsehen als auch bei Zeitungen Praktika absolviert. Die Kenntnisse, die ich dort erworben habe, waren sehr hilfreich, auch für die Arbeit bei estnischen Medien.
Deutsche Pünktlichkeit und Ordnung, das gehört ebenfalls zu mir – ich mag es, immer pünktlich zu sein und meine Sachen korrekt zu erledigen. Direkt wie die Deutschen bin ich auch, rede nicht um den heißen Brei herum. Deutsche Sprache, Kultur und Leute sind mir sehr nahe. Durch sie wurde meine Welt unheimlich erweitert und bereichert, dafür bin ich sehr dankbar.
© Christian Gogolin
Jaan Aru
Wissenschaftler
Der Weg zur Wissenschaft startete in Berlin
Auf Empfehlung meines Vaters habe ich bereits in der dritten Klasse mit Deutsch angefangen. Die Sprachkenntnisse haben es möglich gemacht, direkt nach dem Abitur nach Deutschland zu ziehen und dort mit dem Studium anzufangen. Ich zeigte mein Sprachdiplom vor und los ging es von Tartu nach Berlin!
Beide Städte sind sehr unterschiedlich. In Tartu kann man ruhig von einem Ende der Stadt zum anderen laufen, in Berlin ist einfach der Maßstab anders. In Berlin leben viele verschiedene Menschen, diese ganze Vielfalt war für mich als junger Mensch natürlich sehr spannend, viele verschiedene Gedanken und Ansichten.
Die Studienzeit in Berlin war toll. Ich musste Freunde finden, mit denen der Sinn für Humor übereinstimmte, sodass es auch eine Zeit der Selbstfindung war. Ich habe am Anfang zwar Psychologie studiert, aber im ersten Jahr gab es an der Uni einen sehr guten Dozenten, der darüber sprach, wie Denkprozesse ablaufen. Das war ein Thema, das mich interessierte und zudem habe ich selbst gemerkt, dass mich das Gehirn doch mehr interessiert. Also verbrachte ich viel Zeit in der großartigen Bibliothek mit vielen tollen Büchern über das Gehirn.
Meinen Master habe ich in Berlin gemacht, promovierte aber in der Max-Planck-Institute in Frankfurt am Main. All dies prägte die Zeit meiner Entwicklung zum Wissenschaftler. 2018 bin ich als Forscher nach Berlin zurückgekehrt, um in einem der Spitzenlabore bei Prof. Matthew Larkum in Humboldt-Universität zu Berlin untersuchen, wie das Gehirn funktioniert. Über das Lernen hinaus habe ich dort schon versucht, neue wissenschaftliche Entdeckungen zu machen. Auf meinem Weg, ein Wissenschaftler zu werden, ist aber beides sehr wichtig.
Wenn ich darüber nachdenke, was ich Kindern zum Lernen empfehlen würde, gehört Deutsch zweifellos dazu. Deutschland ist für Esten ideal, denn es gibt dort sehr gute Möglichkeiten, Ingenieurwissenschaften sowie technische Wissenschaften zu studieren, und das sind Dinge, in denen wir Est*innen gut sind- plus die Gelegenheit, Leute zu treffen, die man sonst nie getroffen hätte. Man findet Freunde, mit denen man sich gerne trifft, die auf derselben Wellenlänge sind und die den Weg der Wissenschaft mit dir gehen. Das ist das Wichtigste.
© Iris Kivisalu
Maarja Jakobson
Schauspielerin
Von Gummibären bis zum deutschen Theater
Im Jahre 1988 beschlossen alle meine Klassenkameraden am Gymnasium in Otepää, die gute Zensuren hatten, Englisch zu lernen. Ich – auch eine vorbildliche Schülerin – entschied mich für Deutsch. Die Anregung hierfür lag an einem früheren Besuch meiner Oma bei ihrer Schwester, die in den Wirren des Krieges nach Deutschland gelangte und dort blieb. Als Oma in den 1970ern meine Großtante besuchte, brachte sie einen ganzen Haufen ausländisches Zeug mit: alle möglichen Klamotten und Stoffe, bunt bedruckte Plastiktüten und Bonbons aus Gummi, die einem südestnischen Mädchen besonders verlockend erschienen. Diese Haribo-Gummibären reichten bei meiner Oma unendlich lange. Immer wieder konnte ich diese bunte, anders riechende Wunderwelt stückchenweise vernaschen.
Meine erste Lehrerin, Frau Maila Värk, brachte uns vor allem das Sprechen bei und die Sprache schien gar nicht so schwer zu sein. Nach dem Schulwechsel nach Tartu hatte ich etwas strengere Lehrer, die mehr Wert auf Grammatik legten. Erst später, als noch Englisch als Fremdsprache dazukam und ich meine Deutschkenntnisse mit Sprachkursen vertiefte, begann ich allmählich, das wahre Wesen der Sprache und ihrer Struktur zu begreifen. Das Lernen der deutschen Sprache fand mit der Immatrikulation zum Germanistik-Studium an der Universität Tartu sein Ende, eine Philologin ist aus mir nicht geworden: Mich zog es an die Theaterschule.
Mit Deutsch „auf Du und Du“ kam ich eigentlich erst nach der Theaterschule, als ich 2000-2001 meine Ausbildung in Berlin fortsetzte. Ich verschlang in diesem Jahr alles, was eine vor Kultur strotzende Großstadt bieten konnte. Ich lernte andere Traditionen des Theaterspielens und der Theaterausbildung kennen. Deutsch ist tief in mir verwurzelt: Wenn ich mitternachts, aus dem Schlaf gerissen, am Telefon auf Deutsch antworten müsste, wäre das kein Problem. Natürlich hätte ich meine Laufbahn auch dort fortsetzen können, aber im Nachhinein muss ich bekennen: Mein Entschluss, nach Estland zurückzukehren, war ganz und gar richtig. Meine Freundin in Berlin besuche ich immer wieder gern und genieße die Möglichkeiten, deutsches Theater zu erleben.
Sprachkenntnisse geben uns die Chance, von außen auf Estland zu blicken. Außerdem öffnen sie uns die Welt und ermöglichen es, neue Freunde zu finden. Ist das nicht ein tolles Komplett-Paket?
© Christian Gogolin
Arvo Pärt
Komponist
Deutschsprachige Texte haben mich und meine Musik geformt
Die deutsche Sprache ist für mich nie ganz fremd gewesen. In der Familie meines Stiefvaters Kuhlberg wurde auch fließend Deutsch gesprochen. Mein eigenes Interesse für Deutsch ist erst in meiner Zeit am Konservatorium erwacht, als wir eine Fremdsprache wählen mussten und ich mich für Deutsch entschied.
Unsere musikalische Ausbildung stammte ja hauptsächlich aus der deutschen, Wiener und italienischen Schule und Kulturgeschichte. Wir mussten nicht den „Sozialismus“ bauen, sondern haben Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Brahms gehört und analysiert. Auch mein lieber Lehrer Heino Eller hat oft im Kompositionsunterricht erzählt, wie er vor dem Krieg in Deutschland und Österreich war, welche Berührungspunkte er mit der dortigen Musiklandschaft hatte. Er zeigte uns Noten und Bücher, die er von dort mitgebracht hatte. Das alles hat uns tief beeindruckt.
Als wir Anfang 1980 mit der Familie nach Wien gelangten, wo sich auch mein Verlag befindet, und ich daraufhin als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nach Berlin weiterreiste, wurde deutlich, dass wir nicht unter Fremden angekommen waren. Ich fühlte plötzlich etwas – etwas derartiges, als ob ich es schon früher einmal erlebt hätte oder damit in Berührung gekommen wäre. Solch ein „heimisches“ Gefühl war für mich selbst unerwartet. Sicherlich kam dieser gewisse Wiedererkennungseffekt teils durch die Sprache zustande. An dieser Stelle möchte ich ergänzen, dass ich dem DAAD unendlich dankbar bin, der sich nicht nur während meines Stipendiums, sondern auch während meiner gesamten 30 Berlin-Jahre um unsere Familie gekümmert hat.
Die deutsche Sprache hat mich beim Komponieren mehrerer Werke inspiriert. Der Titel des Orgelstücks „Mein Weg hat Gipfel und Wellentäler“ klingt allein ja schon äußerst poetisch. Diese Wellentäler und Gipfel haben mich wahrhaftig beflügelt… Und wie schön sind die Worte des Werkes „Sieben Magnificat-Antiphonen“, zum Beispiel im Absatz „O Morgenstern“. Oder die Worte in dem Werk „Es sang vor langen Jahren“ von Clemens von Brentano oder auch der deutschsprachige Psalmentext in dem Werk „Ein Wallfahrtslied“ (Ps. 120). Sicherlich hat die Berührung mit vielen deutschsprachigen Texten sowohl mich als auch meine Musik geformt. Dafür bin ich zutiefst dankbar.
© Christian Gogolin
Ülle Madise
Rechtskanzlerin
Ein Lexikon mit besonderer Bedeutung
Wie es in meiner Kindheit vorgesehen war, habe ich in der vierten Klasse angefangen, Deutsch zu lernen. Die Idee kam eigentlich von meiner Mutter, die Geschichte und Germanistik an der Universität studierte und der es sehr gut gefallen hat. Aber als Kind las ich auch viele deutsche Märchen. So habe ich mich für den deutschen Sprachunterricht entschieden und bin bisher mit dieser Wahl sehr zufrieden.
Enzyklopädien haben für mich eine besondere Bedeutung. Schon als Kind hat es mir gefallen, die estnische Enzyklopädie zu studieren und in der Bibliothek der Universität Tartu war der Enzyklopädie-Saal mit der Brockhaus-Enzyklopädie mein Lieblingsraum. Es hat sich herausgestellt, dass man mithilfe des „Brockhaus“ auch extrem schnell für Prüfungen lernen konnte. Während andere zum Beispiel einen ganzen Haufen Bücher zur Rechtsgeschichte lasen, nahm ich die Stichworte, setzte mich in den Saal der Enzyklopädien und begann in der Brockhaus-Enzyklopädie zu studieren.
Dieses organisierte Denken, die Präzision zwischen den Schlüsselwörtern, die kurze und klare Ausdrucksweise haben mich persönlich sehr beeinflusst und scheint auch die estnische Sprache, die estnische Art des wissenschaftlichen Denkens geprägt zu haben. Ist es wegen der gemeinsamen Geschichte oder der Ähnlichkeit der Völker? Wer weiß! Ich kann mich aber mit Deutschen sehr gut unterhalten und habe das Gefühl, dass wir uns recht gut verstehen.
Meiner Meinung nach sollten die Esten mindestens drei Sprachen beherrschen und eine davon könnte durchaus Deutsch sein. Erstens, unterstützt es systematisches und klares Denken, zweitens öffnet es aber auch die Tür zu einem sehr wichtigen Teil der Kultur in der Originalsprache. Mir haben die Sprachkenntnisse eine großartige Gelegenheit gegeben, die erste Leserin einiger Belletristik in Estland zu sein.
Und drittens: wer Europa- und Weltpolitik verstehen will, muss Texte in verschiedenen Sprachen lesen und vergleichen können. Wenn man lernt, in verschiedenen Sprachen zu denken und sich auszudrücken, ist das auch sehr gut für das Gehirn, es hält den Geist lange fit.
© Iris Kivisalu
Mati Sirkel
Übersetzer
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt
Deutsch entdeckte ich dank meiner guten Deutschlehrerin in der Mittelstufe, die immer meine Aussprache lobte und in mir einen gewissen Ehrgeiz wachrief. Das war vielleicht der Grund, warum ich mich an der Universität für ein Studium der Germanistik entschied.
Ich habe die Philologie lediglich anhand von Büchern studiert. Mit einem deutschen Muttersprachler habe ich erst einige Jahre nach dem Abschluss der Uni sprechen können, und zwar, als mich ein Bekannter aus Thüringen in die damalige DDR einlud. Dorthin fuhr ich mit einer langsamen Bimmelbahn voller Jugendlicher, die feierten und sich in einem örtlichen, schwierigen Dialekt unterhielten. Ich habe kein Wort verstanden! Ich war schockiert und habe mich gefragt: Was zum Teufel hab ich die fünf Jahre lang in der Universität gemacht? Als ich dann mit meinem Gastgeber Hochdeutsch sprechen konnte, war das natürlich etwas Anderes und nach einiger Zeit hatte ich mir auch die Umgangssprache angeeignet. Diese ist im Moment etwas eingerostet, aber zum Übersetzen reicht‘s noch.
Deutsch ist aufgrund der Grammatik und Syntax relativ kompliziert und ich bin im Nachhinein meinen Lehrern dankbar, dass sie beim Pauken dieser Regeln nicht locker ließen. Beim Üben entdeckt man irgendwann die innere Logik der Sprache. Am Deutschen fesselt mich die Genauigkeit, das Spiel mit Finessen. Große Namen und Literaturklassiker gehören zu jeder bedeutenden Sprache.
Das goldene Zeitalter der deutschen Literatur war die Zeit von Goethe – Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Eine Sprache, die so eine Epoche vorweisen kann, muss sich nie schämen. Bei der deutschsprachigen Literatur sprechen wir von der Literatur Deutschlands, der Schweiz und Österreichs – und gerade die Eigenheiten des letztgenannten Kulturraums faszinieren mich und die Österreicher haben mich in der Literatur am meisten beeinflusst. Zu meinen Zukunftsplänen gehört auch eine Anthologie der Literatur des goldenen Zeitalters und dafür müssen einige wichtige Schriften dieser Zeit noch ins Estnische übersetzt werden.
Die deutsche Sprache hat das estnische Volk und unser Land, aber ebenso unsere Sprache wesentlich beeinflusst. Unsere Geschichte ist mit der deutschen eng verbunden und deshalb steht uns Deutsch näher als irgendeine andere große Sprache. Die Sprache ist die Welt, in der wir leben – mit ihr kommunizieren wir, tauschen Ideen aus. Sie ist das wichtigste Medium, das unser Leben bestimmt. Deutsch hat neben meiner Muttersprache meinen Weg beeinflusst und mich begleitet. Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Wenn es mehrere Sprachen sind, dann erweitert sich zweifellos auch meine Welt.
© Christian Gogolin
Martina Eerme
Studentin, IPS-Stipendiat im Deutschen Bundestag
Von dem Kinderlied bis zum Magisterstudium ins Berlin: mit einem Stopp im Parlament
Ich habe eigentlich schon im Kindergarten angefangen Deutsch zu lernen, aber da es spielerisches Lernen war und ich in der Grundschule auf Englisch umgestiegen bin, hat das nicht so viel gebracht. Eine ernsthaftere Bekanntschaft mit der deutschen Sprache begann erst in der sechsten Klasse, als ich auf das Deutsche Gymnasium Tallinn wechselte. Wir haben Geschichte, Biologie, Physik und Mathematik auf Deutsch studiert, und der Sprachunterricht beinhaltete Grammatik- und Literaturunterricht.
Als kleines Mädchen träumte ich davon, Reisejournalistin zu werden, um viel reisen zu können. Dank der deutschen Sprache fing ich aber auch an zu reisen, zum Beispiel zum Finale des Debattierwettbewerbs „Jugend debattiert“ nach Prag oder mit der Schule nach Deutschland und in die Schweiz, um schließlich meinen Bachelor an der Universität Freiburg zu absolvieren und im Deutschen Bundestag in Berlin mein Praktikum zu machen. Inzwischen spreche ich fast nur noch Deutsch - zu Hause mit meinem Partner sowie während des Praktikums im Parlament. Und wenn ich dort im Sprachkontext bin, ertappe ich mich oft dabei, dass ich auch schon auf Deutsch denke.
Berlin ist sehr abwechslungsreich, jeden Tag treffen mich dort neue Überraschungen. Es gibt ein Berlin der Reichen, dessen Bewohner in Luxusautos zu ihren pompösen Häusern fahren, gleichzeitig sieht man in der U-Bahn allerlei interessante Menschen - jemand fährt mit einer Ratte herum, einige haben einen Aluhut auf dem Kopf...
Aber in keiner anderen deutschen Stadt gibt es so viele Möglichkeiten wie in Berlin! Wenn ich Lust dazu habe, kann ich jeden Tag ins Museum gehen, Weltklasse-Konzerte oder das Theater besuchen und internationale Küche genießen. Auch mitten in der Politik zu sein - im Parlament passiert jeden Tag so viel. Es ist einfach so aufregend, im Herzen der Demokratie zu sein. Es wird nie langweilig.
Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, für den Rest meines Lebens in Berlin zu leben. Jetzt ist es zwar schön, aber in drei Jahren, denke ich, komme ich zurück nach Estland. Estland ist immer noch meine Heimat.
© Iris Kivisalu
Mart Juur
Humorist, TV-Moderator und DJ
„Sex Pistols“ auf Deutsch
In meiner Schulzeit in Otepää der 1970er musste man ab der 5. Klasse neben Russisch eine Fremdsprache lernen. Meine Eltern wollten, dass ich Deutsch lerne, damit sie mir bei den Hausaufgaben helfen könnten. Konnten sie aber nicht, wie sich später herausstellte, denn Deutsch ist sehr kompliziert. Mark Twain hat ungefähr gesagt: Wenn der Deutsche verbissen mit dem Prädikat in einen Satz eintaucht, dann taucht er mit dessen Sinn erst am anderen Ufer des Atlantiks auf. So beherrsche ich deutsche Grammatik nicht so richtig und hatte auch keine Sprachpraxis: Mit wem hätte ich denn in Otepää überhaupt Deutsch sprechen sollen? Meine Lehrerinnen Frau Alma Joosepson und Frau Maila Värk waren aber toll! Ich hätte mehr von ihnen lernen können.
Die Motivation zum Lernen war aber da: Wenn die Motivation für die Esten im Norden darin bestand, Finnisch zu lernen, um über das finnische Fernsehen nach Westen schauen zu können, war die ostdeutsche Presse ein ähnliches Fenster für die Südesten. Diese wurde an Kiosken in Otepää in reichlicher Auswahl angeboten und ich war als Schuljunge ein ständiger Käufer. Die Neue Berliner Illustrierte schrieb über das Leben im Ausland und über Musik. Dort habe ich die ersten Nachrichten über Punk und die „Sex Pistols“ gelesen. In der Jugendzeitschrift Neues Leben waren ebenfalls Artikel über ausländische Bands zu finden, außerdem gab es darin Poster. Auch in der Kinderzeitschrift FRÖSI gab es lustige Bilder. Und natürlich die Burda, die von Hand zu Hand weitergegeben und regelrecht zerlesen wurde; Für Dich war eine Frauenzeitschrift, die auch mein Interesse weckte, weil darin auch über Musikgruppen berichtet wurde. Später entdeckte ich die Zeitschrift Melodie und Rhythmus mit interessantem Material über die Musikszene in den USA oder England, das war schon tolles Zeug.
An der Uni rückte Deutsch eher in den Hintergrund, obwohl meine Lehrerin Frau Siiri Raitar sehr gut und streng war, aber die englischsprachige Lektüre war mehr und mehr auf dem Vormarsch. So kam es eben dazu, dass ich Deutsch bis heute nicht richtig kann, und wenn, dann nur, wenn ich Alkohol getrunken habe – aber dann kann ich wohl alle Sprachen der Welt. Einfache Presse kann ich schon lesen, aber aus der Literatur kann ich nur zwei Zeilen aus Goethes „Erlkönig“ aufsagen: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; …
Aber das Wichtigste, was Deutsch mir gebracht hat, war die Entdeckung der deutschen Musikszene: „Die Puhdys“, „Karat“, „Stern Combo Meißen“, Frank Schöbel. Für einen Jungen aus Otepää war es das Fenster in die Welt.
© Christian Gogolin
Juulia Baer-Bader
Kommunikationsmanagerin und Politikwissenschaftlerin
Mein Radio spricht Deutsch
Ich spreche fließend vier Sprachen. Meine Muttersprache ist Russisch, Estnisch habe ich in der Schule oder als Kind draußen beim Spielen mit estnischen Kindern gelernt. Dann studierte ich Englisch und Deutsch, meine Französischstudien sind noch im Gange.
Deutsch ist aber meine Lieblingsfremdsprache! Ich habe zum Beispiel alle meine technischen Geräte auf Deutsch gestellt, wenn ich Auto fahre, spricht das Navigationssystem Deutsch und in Belgien, wo ich derzeit wohne, höre ich Deutschlandfunk, um die Nachrichten zu hören. Wenn ich einen Film angucken will, den es auf Englisch oder auch auf Deutsch gibt, ist dies überhaupt keine Frage, natürlich auf Deutsch.
Der erste Kontakt mit der deutschen Sprache war natürlich in der Schule. In der Universität Tartu habe ich einen Deutschkurs belegt, um mit einem Stipendienprogramm nach Deutschland zu gehen - erst dort habe ich aber die Sprache wirklich gelernt. Den Klang der deutschen Sprache genieße ich sehr, ich finde den schön und melodisch.
Während meines Stipendienprogramms in Erfurt haben wir Ausflüge in andere Städte gemacht - natürlich auch nach Berlin. So besuchte ich die Stadt zum ersten, zweiten und dritten Mal und danach war mir klar, dass ich ohne Berlin nicht mehr leben kann. Insgesamt sieben Jahre habe ich dort gelebt und es ist eine völlig einzigartige Erfahrung. Ich kann nur empfehlen: Wenn man rausfinden will, wer man ist, muss man nach Berlin gehen! Auch jetzt, wenn ich dort Freunde besuche, habe ich immer noch das Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich besuche meine Lieblingsorte, gehe in den Reichstag, die Spree entlang spazieren, besuche Lieblingscafés. Berlin zieht mich an wie ein Magnet.
Meine Deutschkenntnisse haben mir die Tür zu kulturellem Reichtum geöffnet und gaben mir die Möglichkeit, die Werke großer Denker kennenzulernen. Es hat mich zu der Persönlichkeit geformt, die ich jetzt bin. Die Erfahrungen, die ich in Deutschland gesammelt habe, haben mir die Sicherheit gegeben, das man verschiedene Identitäten in sich vereinen kann. Estland war, ist und bleibt meine Heimat, aber dazu gibt noch einige andere Heimatorte. Deutschland wird jedoch immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben.
© Iris Kivisalu
Tõnis Pilvisto
Geschäftsführer
Emotionen und Sprache
Mit dem Deutschunterricht habe ich am Deutschen Gymnasium Kadriorg angefangen. Meine Lehrer waren sehr streng und in der Abiturklasse hatten wir so gute Sprachkenntnisse, dass wir in den Deutschstunden tun konnten, wozu wir Lust hatten. Die Partnerschule in Schwerin ermöglichte uns, das Leben in der damaligen DDR kennenzulernen: Die Fassade sah zwar schön aus, aber die Schüler schienen, als wären sie dem kommunistischen System treuer ergeben als wir, denn wir haben politisch freier gedacht.
Die damaligen Kontakte führten mich noch mehrmals in die DDR: Ich kann mich an 1988 erinnern, als in Leipzig bereits die ersten Demonstrationen gegen den Totalitarismus stattfanden. Es roch damals schon nach Freiheit und es dauerte nicht mehr lange, bis die Mauer 1989 fiel.
Nach meinem Studium an der Technischen Universität Tallinn konnte ich als junger Ingenieur, dank des bekannten Herzchirurgen Prof. Dr. Sulling, Kontakte zu deutschen Herstellern von medizinischen Instrumenten knüpfen und es ergab sich die Gelegenheit , eine Zeit lang in einem bayerischen Kleinunternehmen die Herstellung medizinischer Instrumente zu erlernen. Diese Chance habe ich mir nicht entgehen lassen und verbrachte sechs Wochen im winterlichen München. Ich begann, den Dialekt zu verstehen und zu begreifen, welch unterschiedliche Kulturen es in Deutschland gibt. Die Menschen in Bayern sind warmherzig, liebenswürdig und aufrichtig.
Danach spielte ich immer mehr mit dem Gedanken, ein eigenes Unternehmen zu gründen und gerade meine Deutschkenntnisse halfen mir, erste Partner in Deutschland zu finden. Mein Deutsch wurde immer besser: Auf zahllose Telefonate folgten Geschäftsreisen. Nach einiger Zeit haben wir ein Joint-Venture mit einem deutschen Unternehmen gegründet, das sich aber in Baden-Württemberg, im Schwabenland, befand. Dort sprach man wieder einen anderen, den schwäbischen Dialekt. Wieder musste ich mich einer neuen Sprache und Kultur anpassen und ich gelangte zu der Erkenntnis, dass das dortige Völkchen in seiner Denkweise den Esten recht ähnlich ist. In den jahrzehntelangen Kontakten mit unterschiedlichen deutschen Regionen bin ich mit der Sprache derart verwachsen, dass ich mich manchmal beim Denken auf Deutsch ertappe.
Man beherrscht eine Sprache erst richtig, wenn man Witze machen kann: Wenn du das kannst, sind Kommunikation und Kontakte kein Problem. Wirkliche Sprachkenntnisse beginnen dort, wo man in der Lage ist, jemanden zum Lachen zu bringen. Emotionen sind das Entscheidende. Sie helfen zum Wesen der Kultur vorzudringen.
© Christian Gogolin
Laura Põld
Künstlerin
Als Künstlerin auf der Route von Tallinn nach Wien
Ich habe eigentlich erst vor kurzem angefangen, Deutsch zu lernen. Ich wurde zu einer Ausstellung in Berlin und zu einem Residenzprogramm in Wien eingeladen. Ich kannte wirklich nur ein paar Worte, als ich dorthin fuhr. Ich war froh, als Gast eingeladen zu sein, um zu tun, was immer ich auch wollte. Das kulturelle Leben und die Gastfreundschaft, die ich dort kennengelernt habe, haben mir das Gefühl gegeben, das ich in Österreich weiterleben und -lernen möchte.
So habe ich zuerst in Estland angefangen, alleine Deutsch zu lernen und später in Wien einige Intensivkurse besucht. Jetzt ist mein Leben geteilt zwischen zwei Ländern und zwei Kunstszenen. Estland ist klein und hier hat man vielleicht bessere Chancen aufzufallen, als in der deutschsprachigen Kunstwelt, wo sich ein junger Künstler leicht verlieren kann. In Österreich nahm ich anfangs eher die Rolle einer Lernenden oder einer Forscherin an,und ich habe die dortigen Diskussionen mit Interesse verfolgt. Aber nach und nach ergaben sich Möglichkeiten für Ausstellungen; durch die Kunst sind Freundschaften entstanden.
Mein Partner ist ein Österreicher, der sein Leben lang in Wien gewohnt hat und mit seiner Familie sprechen wir nur in diesem weicher klingenden österreichischen Dialekt. Lustig wird es zum Beispiel bei Brettspielen, wenn ich ein Wort aus dem Englischen direkt übernommen habe und es sich herausstellt, dass das Wort gar nicht existiert, obwohl ich es schon seit zwei Jahren verwende.
Ich mag diesen etwas verträumten Lebensstil. Wien hat eine sehr gute Kaffee- und Cafékultur. In einer Großstadt ist es möglich, anonym zu bleiben: man kann einfach eine Stunde mit einem Zeichenblock irgendwo in einem Straßencafé verbringen und beobachten und hören, was um einen herum passiert. In Wien gibt es das Museumsquartier, das viele verschiedene Galerien, Ausstellungshäuser und mehrere Museen versammelt. Was ich dort gefunden habe, hat mich als Künstlerin definitiv sehr inspiriert und geholfen, an meiner Kunst zu arbeiten. In Österreich faszinieren mich aber auch die alten Kinos. Im Wien ins Kino zu gehen und gute österreichische Filme zu schauen ist eine von meinen Lieblingsbeschäftigungen.
© Iris Kivisalu
Harry Liivrand
Kunsthistoriker
Vom Schlager zum Kulturschatz
Ich habe in der fünften Klasse angefangen, Deutsch als sogenannte erste Fremdsprache zu lernen, aber sie war schon viel früher Teil meines Lebens. Es liefen nämlich in den Sechzigern viele deutsche Lieder im Radio, und da meine Eltern gerne sangen, waren diese auf Gitarre und Akkordeon gespielten deutschen Schlager im Familienkreis sehr beliebt.
Da Brieffreundschaften in meiner Schulzeit eine sehr beliebte Form des Kontaktknüpfens war, erschien auch meine Anzeige im berühmten DDR-Magazin FröSi. Ich erhielt über 30 Zuschriften: von Kindern aus der DDR, Polen, Ungarn und anderen Ländern sowie von Kindern aus der ganzen Sowjetunion. Ein paar gute deutschsprachige Brieffreunde stammten aus Litauen, mit denen wir bis zur Jahrhundertwende einen regen Briefwechsel geführt haben, und wir haben uns auch oft getroffen. Außerdem bekam ich eine Brieffreundin aus Schwerin, der damaligen Partnerstadt Tallinns, und es gab da ein nettes Mädchen aus Leningrad – uns einte das Interesse an Kunst und Architektur.
Seitdem ist mein Leben auf die eine oder andere Weise mit der deutschen Sprache, Kultur und dem deutschsprachigen Raum verbunden. Obwohl ich die Sprache nie so perfekt beherrschen werde wie ein Deutscher, ist das nicht das Wichtigste. Es ist wichtig, seine Gedanken zu vermitteln, sich durch Sprache zu verständigen. Dank meiner Deutschkenntnisse konnte ich in Deutschland sowohl studieren als auch arbeiten. Die Möglichkeit, die gleiche Sprache zu sprechen, öffnete mir viel schneller Türen, als ich zum Beispiel als Kulturattaché in der estnischen Botschaft arbeitete oder als Leiter des Tallinner Kunsthauses Ausstellungen aus Deutschland kuratierte. Es ermöglichte, große gemeinsame Projekte zu realisieren, die beeindruckten und was bewirkten.
Dank meiner guten Deutschkenntnisse habe ich die vielen Facetten der Deutschen Sprache mit all ihrem kulturellem Reichtum entdeckt und erkannt, dass wir wirklich ein Teil davon sind, was sehr wichtig ist. Schließlich kamen während der Aufklärung Staatsdeutsche als Heimlehrer und als Beamte nach Estland und entwickelten von dort aus auch ein Interesse an uns Esten. Der Staatsdeutsche August von Kotzebue kam von Deutschland über St. Petersburg nach Estland, machte hier eine glänzende Karriere, gründete ein deutschsprachiges Theater und verwendete 1788 als Erster Estnisch auf dessen Bühne. Dank ihm ist zum Beispiel das Wort „virrvarr“ aus dem Deutschen ins Estnische gekommen – es war der Titel einer der berühmtesten Komödien Kotzebues.
Andererseits hat Deutsch fantastische, einfach außergewöhnliche Freunde in mein Leben gebracht! Im wahrsten Sinne des Wortes richtig treue Freunde, wie die Deutschen sagen. Auf sie ist in jeder Situation verlass!
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Katri Raik
Politikerin
Esten - die besten Deutschen der Welt
Deutsch ist für mich einfach meine große Liebe! Es war meine erste Fremdsprache in der Schule und ermöglichte nach Abschluss der achten Klasse 1983 eine Reise in die damalige DDR. Die Bluse mit Streifen, die ich für meine wenige DDR-Mark gekauft habe, besitze ich noch heute. Auch die Thermoskanne und der Föhn, die ich 1989 beim nächsten Jugendaustausch in West-Berlin gekauft habe, funktionieren noch bis heute. Meine ersten selbst gekauften „westlichen Sachen“. Jedes Mal, wenn ich umziehe, denke ich: das reicht , jetzt werfe ich die weg, aber aus irgendeinem Grund werden die doch immer noch behalten.
Während meiner Masterprogramme und Promotion in Deutschland habe ich angefangen, mehr Deutsch zu sprechen und ich muss sagen, dass ich sehr gerne auf Deutsch kommuniziere. Obwohl das Leben sich so entwickelt hat, dass Russisch jetzt meine erste Fremdsprache ist, bleibt Deutsch mir immer noch sehr wichtig. Meine Freunde haben es schon kapiert, dass man mich am Wochenende nachmittags nicht anrufen soll, weil ich dann nämlich Rosamunde Pilcher’s Fernsehfilme anschaue. Oder wenn ich schlechte Laune habe, suche ich mir einfach einen deutschen Krimi im Fernsehprogramm aus.
Ich denke, die Esten sind die besten Deutschen der Welt. Ich habe in Deutschland Pünktlichkeit und Präzision gelernt. Mich nervt furchtbar, wenn jemand zwei Minuten zu spät zu einem Termin kommt. Bei Deutsch ist es sehr wichtig, nicht zu vergessen, dass deutsche Kultur ein Teil der estnischen Kultur ist, denn in estnisch gibt es sehr viele deutschstammige Lehnwörter aus dem Deutschen. Wir sind sehr eng miteinander verwandt und das bietet uns auch die Möglichkeit, die Geschichte Estlands besser zu verstehen. Und bitte lernt die Grammatik, weil es für Deutschkenntnisse wirklich notwendig ist!
Insgesamt bin ich der Auffassung, dass die Toleranz bei Menschen mit dem Sprechen von drei Sprachen beginnt; und eine Sprache, die man kennen sollte, wäre definitiv Deutsch. Diejenigen, die mindestens drei Sprachen beherrschen, sind einfach cooler.
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Luukas Kristjan Ilves
Beamter
Die dritte Muttersprache aus München
Für mich ist Deutsch die dritte Muttersprache. Ich wurde 1987 in München geboren, zuhause wurde Estnisch und Englisch gesprochen, aber als Dreijähriger kam ich in einen deutschen Kindergarten. Erinnerungen habe ich keine mehr, aber wahrscheinlich erlernte ich die Sprache in wenigen Monaten.
Meine Mutter erzählte mir, dass ich als Zweijähriger ein großer Autofan war, wahrscheinlich war „Auto“ dann auch mein erstes Wort. Ich kann mich daran erinnern, dass wir sonntags mit der Familie unterwegs waren und ich meine Weißwurst und Brezel bekam – noch heute ist dies für mich das häusliche Essen -- die Leib- und Magenspeise schlechthin.
Als ich fünf Jahre alt war, zogen wir nach Washington, wo mein Vater Toomas Hendrik Ilves Botschafter wurde. Dort wurde ich zur deutschen Schule geschickt. Bis zur vierten Klasse lernte ich in einer herkömmlichen deutschen Schule nach deutschem Lehrplan: Das war ein kombinierter Lehrplan aller Bundesländer speziell für die Bedürfnisse deutscher Diplomatenkinder. In meiner Klasse war ich aber nicht das einzige Kind, dass eine Verbindung mit Estland hatte: So kam die Familie meines Klassenkameraden Jakob Lambsdorff gerade aus Tallinn, wo sein Vater als Diplomat in der Deutschen Botschaft tätig gewesen war. Und zwanzig Jahre später schrieb mir an einem herrlichen kalten Tag im Februar ein anderer Klassenkamerad, Fabian Schlaga, auf Facebook: Sein Vater ist Botschafter in Estland geworden, und er besucht ihn gerade in Tallinn. Was für ein Zufall – aus einer Mittelstufenklasse einer deutschen Schule auf der anderen Seite des Atlantiks gibt es sogar drei Personen, die auf die eine oder andere Weise mit Estland verbunden sind.
Nach meinem Umzug nach Estland 1997 war das deutsche Fernsehen meine einzige Verbindung mit Deutschland. Als Zehnjähriger wurde ich Fan der TV- Serie „Star Trek“ und gewöhnte mich so sehr an die auf Deutsch synchronisierten Filme, dass mir später, zurück in den USA, „Star Trek“ im Originalton irgendwie ganz merkwürdig vorkam, die Stimmen waren einfach falsch.
In den USA ging ich noch ein paar Jahre in eine deutsche Schule, aber nicht mehr aufs Gymnasium. Während meines Studiums war ich einen Sommer lang zu einem Praktikum in Berlin, da wurde überwiegend auf Deutsch gearbeitet. Bei meiner Arbeit in Brüssel waren Deutschkenntnisse auch praktisch – es ist die dritte Arbeitssprache in Brüssel. Viele sprachen Deutsch untereinander und wenn man ein Gespräch auf Deutsch begann, waren alle froh, es praktizieren zu können.
© Christian Gogolin